Auf den Website der Stadt Darmstadt sind die Grabstätten bekannter Persönlichkeiten aufgelistet. Insgesamt sind es 69 Ehrengräber – darunter gerade einmal neun weiblicher Verstorbener. Der Anteil der Frauen, die laut dieser Auflistung erinnerungswürdig sind, ist also etwa genauso groß wie der Anteil der Namen „Wilhelm“ oder „Ludwig“. Hier zeigt sich ein Problem, das bereits Virginia Woolf aufdeckte, als sie 1929 ihr berühmtes Essay „A room of one’s own“ schrieb: Darin schilderte sie das Schicksal Judith Shakespeares, der fiktiven Schwester Williams, die aufgrund ihres Frauseins trotz großen Talents niemals so erfolgreich hätte werden können wie ihr berühmter Bruder. Frauen sind auch in der Darmstädter Geschichtsschreibung häufig unterrepräsentiert und scheinen heute vielfach beinahe unsichtbar. Doch es lohnt sich, auf die Suche nach denen zu gehen, die gegen die Grenzen ihrer Zeit rebellierten – und vergessene Darmstädterinnen wieder ans Tageslicht zu holen. In Folge 5 unserer Artikelserie ist es die bezaubernde Dichterin Ilse Langner – eine der neun Verstorbenen, an die in Darmstadt zumindest ein Ehrengrab (und seit 1997 ein nach ihr benannter Platz) erinnern.
Der heutige Ilse-Langner-Platz im Paulusviertel ist nach einer Frau benannt, deren Name vielen jüngeren Darmstädter:innen wenig sagt. Dabei liegt dieser Platz nur zehn Gehminuten vom Luisenplatz entfernt – mitten in Darmstadt. Dennoch kennen ihn wenige. Im Gegensatz zum nach Männern benannten John-F.-Kennedy- und Ludwigplatz. Die kennt jede:r. Wer aber war die Namensgeberin des Ilse-Langner-Platzes? Und was hat sie in ihren 89 Lebensjahren geschaffen?
Ilse Langner war eine vielseitige Frau: Erzählerin, Dramatikerin, Lyrikerin, Theaterautorin und noch vieles mehr. Am 21. Mai 1899 wurde sie im schlesischen, heute polnischen Breslau geboren. Mit sieben Jahren schrieb sie ihre ersten Gedichte, mit zwölf die ersten Erzählungen. Ein bisschen Drama durfte natürlich auch nicht fehlen: Als sie 15 war, verfasste die junge Ilse ihr erstes Theaterstück.
Als ihre Eltern sich früh trennten, blieb sie bei ihrer Mutter Helene Langner, die eine Herrenpension in Breslau leitete. Die jugendliche Ilse musste im Ersten Weltkrieg viele traumatische Erfahrungen machen, die sie ihr Leben lang mit einer Antikriegshaltung in ihren Werken verarbeitete. Nach dem Krieg brach Ilse das Gymnasium ab und versuchte, ihre bereits begonnene journalistische Tätigkeit weiter auszubauen.

Erstes Theaterstück und Berliner Zeit
1921 heiratete Ilse einen Angestellten, der bei einem Chemieunternehmen arbeitete. Nach ihrer Scheidung 1928 zog sie nach Berlin um. Dort heiratete sie ihren zweiten Mann, den Fabrikanten Dr. Werner Siebert, mit dem sie bis zu dessen Tod 1954 zusammenlebte. Berlin bot ihr viele Möglichkeiten, denn die Großstadt war ein kulturelles Zentrum mit vielen Theatern. Ilse Langner erhielt während der Zeit des Nationalsozialismus keine Möglichkeit zur Publikation ihrer Werke, diese wurden verboten. Trotzdem emigrierte sie nicht, sondern begann zu reisen. Während Frauen kaum Rechte eingeräumt wurden, reiste die selbstbewusste Frau alleine rund um den Globus: von Peking über Tokio, Korea, Bangkok, Angkor, Indien, Iran, Irak bis Afghanistan. 1928 unternahm sie für den Scherl-Verlag eine Reportagereise in die Sowjetunion. Im gleichen Jahr verfasste sie ihr erstes Theaterstück „Frau Emma kämpft im Hinterland“.
Auf Weltreise
Darin behandelte sie das typische Ilse-Langner-Thema: Frau und Krieg. „Frau Emma kämpft im Hinterland“ war nicht nur ein Stück, sondern das erste Antikriegsdrama, das von einer Frau verfasst wurde. Langner veranschaulicht, dass Krieg nicht nur an der Front stattfindet, sondern auch im Hinterland weitergeführt wird. Während die Männer kämpfen, übernehmen Frauen Verantwortung für Gesellschaft und Familie. Langner versucht hier, Frauen nicht als Opfer darzustellen, sondern als aktive Subjekte begreifbar zu machen. Emma ist nach dem Krieg der Meinung, dass Frauen nicht einfach wieder zu ihren früheren Rollen zurückkehren und im Haus bleiben sollten, sondern dass das gewonnene Selbstbewusstsein der Frauen nicht verloren gehen darf. Der Text betont nicht nur, dass die Gesellschaft zum Wohl von Frauen und Kindern neu gestaltet werden muss, sondern bringt auch eine klare feministische Haltung zum Ausdruck.
Während im Januar 1933 die Proben für die Uraufführung von „Amazone“ in Berlin laufen, kommen die Nationalsozialisten an die Macht – und das Stück wird schnell verboten. Ilse Langner beginnt eine Weltreise. Sie ist sehr lange Zeit in China und Japan und danach in den USA unterwegs. 1937 schreibt sie den Peking-Roman „Die purpurne Stadt“, doch auch dieses Werk wird von den Nazis verboten. Während viele ihrer Berliner Freunde das Land verlassen, emigriert Ilse Langner nicht. Als Grund gab sie später an, dass sie ohne die deutsche Sprache nicht leben könne.
Pariser Zeit
In der Nachkriegszeit schreibt Ilse Langner weitere Dramen. Zwischen ihren Reisen lebt die Schriftstellerin in Berlin und die längste Zeit in Paris, wohin sie als einzige Deutsche 1947 zum Frauenfriedenskongress eingeladen wird. Sie spricht dort als Vertreterin der deutschen Frauen, die sich im Nachkriegsdeutschland engagieren. Ilse Langer, die sich in die „Stadt der Liebe“ verliebt hatte, verfasst gleich zwei Werke darüber: „Meine Pariser Zeit” und „Drei Pariser Stücke”. Als sie in dieser Zeit Indien bereist, lernt sie Indira Gandhi, die erste indische Präsidentin, persönlich kennen. Eine Begegnung, die sie fortan prägt.
Letzte Station: Darmstadt
Nach dem Tod ihrer Mutter und ihres zweiten Mannes (1954) bleibt Ilse Langner nicht mehr in Berlin, wohin sie nach ihrer Pariser Zeit zurückgekehrt war. Nach einem kurzen Abstecher nach Baden-Baden zieht sie nach Darmstadt, das sie 1963 zu ihrem festen Wohnsitz macht. Obwohl es keine konkreten Nachweise darüber gibt, ist stark anzunehmen, dass sie wegen des hier ansässigen PEN-Zentrums Deutschland an den Woog gekommen ist. Der PEN-Club ist eine internationale Schriftsteller:innenvereinigung, die sich für Meinungsfreiheit und verfolgte Autor:innen einsetzt. Bereits seit 1950 war Ilse Langner Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die ihren Sitz ebenfalls in Darmstadt hat. Sie verbrachte ihre letzten 25 Jahre am Woog mit vielen Freunden – bis zu ihrem Tod im Jahr 1987. Über Darmstadt sagte die Autorin: „Ich fühle mich wohl hier, es ist eine freundliche Stadt voller Harmonie – obwohl sie so viele Gegensätze in sich birgt: die modernsten technischen Institutionen, die aufregenden Wochenendgespräche draußen und die großen Ausstellungen.“
Preise und Ehrungen
Obwohl ihre Theaterstücke nicht immer erfolgreich waren, gilt Ilse Langner heute als eine der bedeutendsten deutschen Dramatikerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie blieb bis ins hohe Alter aktiv, lieferte weiterhin wertvolle Beiträge für die deutsche Literatur. Dr. Margarete Dierks, ihre enge Freundin und Sekretärin, begegnete ihr in ihren letzten Stunden vor ihrem Tod. Ilse Langner sagte zu ihr: „Ich habe nichts anderes tun können als arbeiten, arbeiten.“ Immer wieder wurde sie im In- und Ausland als Vertreterin der deutschen Literatur geehrt. In ihrer Heimat wurde Ilse Langner unter anderem mit der Johann-Heinrich-Merck-Medaille der Stadt Darmstadt (1969), mit dem Großes Bundesverdienstkreuz (1979), dem Eichendorff-Literaturpreis (1980) und der Goethe-Plakette des Landes Hessen (1984) ausgezeichnet. Dabei blieb sie ihren zwei Hauptthemen immer treu: Die Dichterin war vehement gegen den Krieg und sie kämpfte dafür, dass Frauen mehr Rechte erhalten. Sie vereinte Pazifismus und Feminismus auf eine vorbildliche Art.









