Darmstadt ist seit jeher bekannt für seine lebendige Punk- und Hardcoreszene. Nun entwickelt sich seit einigen Jahren eine neue Generation an Bands, die Bock haben, das Ruder selbst in die Hand zu nehmen. Die Übergänge zu anderen Musikszenen sind dabei fließend. Ein Szenereport.
Schrill verzerrte Gitarren, abgehackte Rhythmen und kaum ertragbare Dissonanzen: Vor der kniehohen Bühne in der Oetinger Villa werfen eine Handvoll junger Leute ihre Arme wild zu der dröhnenden Musik um sich, treten mit Highkicks im Takt der Musik und schubsen sich grinsend gegenseitig von einer Seite zur anderen. Es ist das Debütkonzert der neuen Darmstädter Hardcore-Band Blinded.
Dabei sind die vier Jungs alles andere als neue Gesichter in Darmstadt. Sänger Odo und Schlagzeuger Nic spielen seit 2021 mit ihrer Crossover-Band One auf sämtlichen subkulturellen Bühnen der Stadt. Gitarrist Fred ist dort inzwischen auch dabei. Außerdem hat er zusammen mit Bassist Juri (genannt „JD“) seit 2022 noch die Pop-Punk-Band Rainbow Curse. Beide spielen auch bei Blinded. So ist mit der Zeit ein dicht vernetztes Geflecht aus neuen Bands mit sich überschneidenden Besetzungen entstanden.
„Wir wollten eigentlich bloß Songs für unsere Skatevideos haben“, erklärt der 17-jährige Fred die Anfänge von Rainbow Curse. Zusammen mit seinem inzwischen 13-jährigen Bruder Ole habe er damals in ihrem Keller einfach „aus Spaß ein bisschen Krach gemacht“. Die Jungs von One kannte er von regionalen Konzerten und vom Skaten auf der Plaza im Bürgerpark. Dort, auf dem bekannten Darmstädter Skate-Spot, war dann 2024 auch eine erste, selbstorganisierte Show von Rainbow Curse – zusammen mit One und der ebenfalls jungen Darmstädter Alternative-Rock-Band Space-C. Es folgte ein Auftritt am OHA Osthang im Mai 2024 beim „Grabenlos Festival“, der non-kommerziellen Gegenveranstaltung zum Schlossgrabenfest. Und schließlich spielte Rainbow Curse als Opener für die international bekannte Melodic Hardcore Band One Step Closer in der Oetinger Villa. Dem gleichen Ort also, an dem Blinded ein Jahr darauf ihre Debütshow feiert.
Darmstadt Straight Edge
Ein paar Monate später. Inzwischen kann Blinded auf einige weitere Auftritte zurückblicken. Die Band sitzt in einem alten Volvo 740 GL auf dem Weg zu ihrem Proberaum in Gernsheim. Am Steuer: Sänger Odo. Auf dem Armaturenbrett: haufenweise Kassetten. Aus den Boxen scheppert der Sound von schnellen Snare Drums und das Geschrei von Oldschool-Hardcore-Bands. Als die vier in die Szene kamen, hörten sie Bands wie Dead Kennedys, Suicidal Tendencies, Earth Crisis oder Bad Brains. Freds Vater besaß eine Hatebreed-CD. Durch das Fenster pfeift der Fahrtwind, von draußen knallt die Sonne auf die alten Autositze. Die Gespräche drehen sich um einen wichtigen Auftritt am nächsten Tag. Der Veranstalter hat Blinded ganze 30 Minuten gegeben. Das dürfte etwa doppelt so lange sein wie ein reguläres Set der Band. Es kommt die Frage auf, ob sie davor noch einmal proben. „Holen wir JD wie letztes Mal vor dem Gig von der Schule ab?“, fragt Fred in Richtung Rückbank. „Wann hast Du Schule aus?“, wirft Odo hinterher. „16.30 Uhr“ – „Ja, easy“.
Alle vier leben Straight Edge. Das bedeutet: Sie lehnen bewusst Drogen ab, trinken kein Alkohol und rauchen keine Zigaretten. Vor allem in einer Szene voller Ekstase (in jeglicher Hinsicht) sticht so eine Einstellung natürlich heraus. Und sie ist identitätsstiftend – für ihre Musik genauso wie für ihren Charakter, erklären sie. „Ich muss mich nicht mit irgendwelchen Drogen zerstören, um bei wem dazuzugehören“, meint Fred. Er habe das Recht, so zu bleiben, wie er ist, zitiert er aus dem ersten Blinded-Song „Right to exist“. Sänger Odo ergänzt: „In den Zeiten, in denen es einem nicht gut geht und man an sich selbst zweifelt, behält man dadurch ein positives Mindset.“ Auch dafür gibt es einen eigenen Begriff in der Szene: Positive Mental Attitude (kurz: PMA). Hardcore gebe ihnen noch tiefgehendere Werte mit als Punk und sei musikalisch sowie inhaltlich ernsthafter. „Und es gibt nicht so viel dieses typische Biergegröle“, fügt Schlagzeuger Nic halb im Scherz, halb ernst gemeint hinzu. Sie schätzen vor allem Texte mit einem Gedanken dahinter, der über die bloße Party-Ekstase hinausgeht.
„Unsere Szene lebt von lokalen DIY-Shows“
Der Tag danach. Blinded laufen durch den Backstage-Bereich des Kesselhauses im Schlachthof Wiesbaden. Auf der Bühne hängt bereits das Backdrop von niemand Geringerem als Earth Crisis. Kein halbes Jahr nach ihrer ersten Show spielt die Newcomerband aus Darmstadt bereits zusammen mit den Pionieren von Vegan Straight Edge! Earth Crisis aus Syracuse, New York, gelten in der Szene als absoluter Wegweiser und prägten in den 90er-Jahren maßgeblich die Soundentwicklung von modernem Hardcore und Metalcore. Schon mehrmals haben Blinded die Band auf ihren Auftritten gecovert.
Doch all das lassen sich die vier Jungs aus Darmstadt nicht anmerken, als sie in Sneakern, weiten Dreiviertel-Hosen und Oversize-Shirts auf die Bühne kommen. Es läuft ein dramatischer HipHop-Beat, bis auf Sänger Odo tragen alle Sonnenbrille. Nach ein paar wilden, kurzen Songs und einem eskalierenden Publikum dann eine Ansage: „Es bedeutet uns sehr viel, heute vor fucking Earth Crisis spielen zu können. Aber genau so muss das auch sein.“ Eine Person aus dem Publikum ruft laut „Darmstadt Straight Edge!“ Odo fährt fort: „Ein Appell an alle Leute, die ausschließlich auf solche Shows hier von Legenden wie Earth Crisis gehen: Unsere Szene lebt von lokalen DIY-Shows. Guckt, was in Eurer Region geht. Checkt lokale Bands, checkt lokale Labels, checkt lokale Booker. Wenn Ihr nicht wisst, wo Ihr Anlaufstellen findet, kommt einfach später zu uns zum Merch.“ Die Menge applaudiert, der nächste Song beginnt – wie immer mit Störgeräuschen aus der gewollten Rückkopplung zwischen Instrumenten und Bühnenlautsprechern.
Eine genreübergreifende Szene
Der erwähnte DIY-Gedanke („Do It Yourself“) begleitet die Jungs von Beginn an. Als man anfangs mit One noch keine Bühnen fand, trat man zuerst auf Techno-Raves auf und schuf sich später zusammen mit dem Neuzeit Kollektiv aus der HipHop-Szene kurzerhand seine eigenen Events. „Wir hatten das Gefühl, dass es kaum junge Bands in Darmstadt gab und deswegen haben wir gemeinsam einfach eine neue, frische Szene aufgebaut“, erzählt Nic. Im Hoff-Art Theater fand 2021 der erste „Neuzeit Cypher“ statt – ins Leben gerufen von Sinan Tekin und Nick Marschalek. Neben (inzwischen) bekannten Darmstädter Rappern wie Jovan, Terra Peace und Vinomane traten dort auch One auf. Unter anderem performten die Rapper dabei auf ein Live-HipHop-Instrumental, das One dazu spielte. „Das hat alles nicht auf einem gemeinsamen Genre oder so basiert“, erläutert Odo, „sondern einfach darauf, dass wir alle ungefähr in der gleichen Altersgruppe sind und Bock hatten, Musik zu machen.“
Ähnlich geht es auch auf der Veranstaltungsreihe „64 Industries“ zu (abgeleitet von Darmstadts Postleitzahl). Ebenfalls im Hoff-Art spielten hier erst diesen Juni wieder Rainbow Curse, One und der Darmstädter Rapper Odin, für den Fred unter anderem auch Beats produziert. „Bei dem Event waren Hardcore-Kids da, Goths, Techno-Leute, HipHoper …“, zählt Fred auf. Dieses Zusammenkommen und untereinander Vernetztsein mache für sie auch Darmstadt als musikalischen und künstlerischen Standort aus, erklärt Odo: „Hier fühlt es sich nicht wie in einer Großstadt wie Frankfurt an. In Darmstadt kennt man dann doch irgendwie jeden.“
Eigenes Record-Label
Um diese Szene noch mehr zu pushen, haben Odo und Fred nun ein eigenes DIY-Record-Label gegründet. Konkrete Records steht mit seinem Namen und Logo in der Tradition der 2015 gegründeten und mittlerweile aufgelösten Band Konkrete X (von Odo, Nic und einem weiteren Freund) und soll Heimat sowohl für eigene Bands als auch „Homies aus Darmstadt“ sein. Zwar gibt es bereits diverse Labels in Darmstadt, doch hätten sie auch hier keines in ihrer Altersgruppe finden können, welches „den Vibe unserer Bands verkörpert“. Außerdem befanden sich Rainbow Curse und One noch auf keinem Label und sollten physische Releases bekommen – womit vor allem Kassetten gemeint sind. „Ich liebe diesen analogen Sound“, schwärmt Odo. „Und selbst, wenn man nicht so viel Kohle hat, kann man dadurch einen physischen Tonträger holen und die Band supporten.“ Eine Schallplatte würde schließlich ein Vielfaches des Preises kosten.
Während sich Fred beim Label ums Aufnehmen, Mischen und Mastern kümmert, bespielt Odo mit einem doppelten Tapedeck zu Hause die Leerkassetten und druckt die Designs aus, die immer von ihnen selbst oder aus ihrem Freundeskreis stammen. Gerade erst im Juli erschien eine neue Demo-EP von Rainbow Curse, das Design dazu kam von Fred. Bei der im Juni veröffentlichten „Fuck Freedom EP“ von One steuert Marc Himself das Cover bei, der früher Drummer bei Konkrete X war und auch Musikvideos für One produziert hatte. Beide Releases liefen über Konkrete Records. Neben Rainbow Curse und One sollen auf dem Label in Zukunft auch das HipHop-Soloprojekt von One-Drummer Amos (Neon-Joker-Hände) sowie die Post-Punk-Band Schlägertrupp releasen. Letztere besteht zum Teil auch aus Mitgliedern des Darmstädter Rap-Kollektivs Goonsquad 343, welches wiederum das Grabenlos Festival dieses Jahr in der Bessunger Knabenschule mit veranstaltete. Es hängt also alles miteinander zusammen. Mit Konkrete Records soll nun eine non-kommerzielle Plattform geschaffen werden, die dieses Netzwerk etwas greifbarer macht.
Kein Stillstand
Generell zeigt sich dieser genreübergreifende Spirit in der jungen Szene immer stärker. Mit Sorely Missed ist eine weitere Band entstanden, deren Gesichter man teilweise von der Skate-Plaza kennt. Die junge Emo-Band hat bereits in der Kulturkneipe Sumpf sowie der Oetinger Villa gespielt. Und auch die relativ neue Hardcore-Band Steel Deal vom Offenbacher Szene-Label sttw Records kommt größtenteils aus Darmstadt (unter anderem mit Odo am Bass) und hat sich mit ihrer Demo-EP diesen Mai sowie mit vielen Auftritten bereits einen Namen erspielt. Auf Konzerten wie im Juli mit Sorely Missed und Rainbow Curse als Vorbands in der Villa vermischt sich dann das Publikum und es werden wiederum neue Leute auf die Newcomer aufmerksam – nicht zuletzt auch dank Veranstalter:innen wie der Angeschimmelt Youth Crew, die stetig jungen Bands eine Bühne geben. Es bleibt also abzuwarten, wie sich die alternative Musiklandschaft in Darmstadt weiterentwickelt. Eines steht zumindest fest: Stillstand wird es hier so schnell nicht geben.













