Seit zwei Jahrzehnten bereichert das erfolgreiche Programm der Reihe „Gute Stube“ im Hoffart Theater die musikalische Vielfalt der Heinerstadt. Zwischen (Anti-)Folk, Country, Blues, Jazz bis hin zu experimentellen Elektronik-Ausflügen oder Noise-Soundscapes, aber auch Lesungen und Filmabenden, wechselt das meist monatlich veranstaltete Programm.
Stets kombinieren die Musikenthusiasten Alexandra Welsch und Torsten Jahr lokale Künstlerinnen und Künstler mit einem nationalen oder internationalen Act und schaffen so einen wunderbaren, inspirierenden Kulturort jenseits profitorientierter Veranstaltungsmaschinerie.
Nicht nur die günstigen Eintrittspreise (5 bis 10 Euro), die nach Abzug von Miete und Gema-Gebühren komplett an die Künstler gehen, sondern auch der sichere Geschmack des ehrenamtlich wirkenden Veranstalterpaars sorgen für großen Zuspruch. Ebenso ein Markenzeichen: die intensive, intime Atmosphäre in der „Guten Stube“. Weil das Publikum hier eng beieinander auf den Stufen des Forums im kleinen Hoffart-Raum sitzt, konnte man aber auch lange nach der Corona-Pandemie keine Konzerte ansetzen, konstatierte Journalistin und Musikerin Alex Welsch.
Stets zeigen sich die Gäste beeindruckt von der Retrokulisse aus Blümchentapete, historischen Fotos, Stehlampe, Willy Brandt-Porträt – und „Lilien“-Fanschal. Manches Fundstück stammt direkt vom Flohmarkt oder vom Sperrmüll. Pünktlich um 20.15 Uhr nach Ausstrahlung der „Tagesschau“ über einen kleinen Fernseher, der ins Bühnenbild integriert ist, startet die Show.
Vinyl-Kultur in der US-Provinz
Auf diese mussten die Stubenjünger seit April verzichten, denn Jahr und Welsch unternahmen (vor dem obligatorischen „Gute Stube“-Open-Air-Sommer-Gastspiel im Bessunger Forst) eine ausgedehnte Amerikatour. Konzerttechniker Torsten Jahr berichtet über die Tour durch die Provinz: „Das war verrückt. Wir fuhren 8.000 Kilometer durch 15, 16 Bundesstaaten. Wir besuchten nicht die Küsten und großen Städte, die jeder bereist, sondern die ländlichen Gegenden. Es ist erstaunlich, wo man überall Plattenläden findet – selbst in Städten mit 20.000 Einwohnern.“ Alex Welsch recherchierte dabei auch für einen ausführlichen Artikel, den die Journalistin für das „Mint“-Vinyl-Magazin schrieb: „Daran kann man einiges vom kulturellen Leben ablesen.“ Überrascht zeigte sich die 52-Jährige angesichts eines CD-Revivals.
Konzertbesuche plante man bei dieser Reise über den Großen Teich allerdings nur wenige ein. Neben einem zufällig mitgenommenen Thrash-Metal-Konzert in Fargo in North Dakota traf man Singer-Songwriterin Charlotte Cornfield als gute Bekannte in Brooklyn und baute die Auftritte von Suzanne Vega und Aimee Mann in Washington ein. Der Besuch von kleineren Orten und Independent-Band-Konzerten hätte den Rahmen gesprengt. „Es ging uns mehr um Land und Leute. Auf der Reise besuchten wir etwa Diane Cluck, die vor elf Jahren in der Stube gespielt hat. Wir kontaktierten sie im Vorfeld, da sie sagte, wir können immer vorbeikommen. Wir lebten vier Tage auf ihrer Farm in Virginia vor der Kulisse der Blue Ridge Mountains, es war wunderschön!“, erinnert sich Torsten Jahr.
Punk-Musical über Eiskunstläuferin Tonya Harding
Daneben trafen sich die beiden Kulturschaffenden mit den Stube-Gästen Phoebe Kreutz und Toby Goodshank in New York. Dank ihnen verbreitete sich der gute Stuben-Ruf rasch innerhalb der US-Antifolk-Szene. Auch einen Besuch bei Nan Turner, Schlagzeugerin des Duos „Schwervon!“ und ein weiterer Kontakt aus der Stube-Frühzeit, in Kansas City ließ man sich nicht nehmen. Welsch: „Sie hatte Premiere mit ihrem absolut abgefahrenen Punk-Musical über Eiskunstläuferin Tonya Harding. Turner verarbeitete die irre Geschichte mit Verweis auf die Popkultur samt einer Rolle für Kurt Cobain. Die Premiere erfolgte unter tosendem Applaus und Standing Ovations. Wir halfen Nan und übernahmen für sie den Merch-Stand.“ Für Alex wäre es ein Traum, das schräge Werk nach Deutschland zu holen.
Zur Intention ihrer Reise sagt die Veranstalterin: „Angesichts des Niedergangs, der gesellschaftlichen und politischen Situation der USA haben wir die Fahrt relativ lang angesetzt – auch im Hinblick darauf, dass es wahrscheinlich unsere letzte Amerika-Reise sein wird. Der Ansatz war, die Leute zu besuchen, die total unter der Situation leiden, ihnen beizustehen und zu sagen: Wir kommen trotzdem noch zu Euch. Außerdem wollten wir überall hinfahren, wo wir noch nie waren – bis tief in den Westen nach Wyoming und zurück.“ Die Stimmung unter Freunden und Bekannten habe dort zwischen Beschämung und potenzieller Anti-Trump-Terrorgruppe geschwankt.
Bei ihren Besuchen in der Provinz war Alex Welsch beeindruckt von den vielen Spuren deutscher Migranten – bis in die Musikerbegegnung hinein: Selbst Diane Cluck, die Farmerin in Virginia, pflege noch ihr deutsches Erbe, inklusive Geburtsurkunde in Frakturschrift. An einem Abend kredenzte sie ihren Gästen Sauerkraut, Würstchen und Kartoffelsalat. „Das ist ihr ganz normales Familienrezept!“, staunte Welsch.
„Wetten dass..?“ und Premieren-Gast-Revival
Zurück nach Darmstadt. Hier wurde die erste „Gute Stube“ am 17. November 2005 veranstaltet. In diesem Jahr steigt am Samstag, 15., und Sonntag, 16. November, die offizielle Jubiläumssause. In alter Tradition soll ein beliebtes TV-Format nachgespielt werden. Schon bei der „Aktenzeichen XY“-Reprise vor zehn Jahren unterstützte P-Autor, Plattenhändler und Musiker Gerald Wrede das Team. Diesmal (am 15. November) lässt man gemeinsam die große Samstagabendshow per „Wetten dass..?“-Neuauflage mit prominenten Gästen, Musikeinlagen, Saal- und Außenwette (mit Baggereinsatz!) auferstehen. Ausnahmsweise wird es hier einen Vorverkauf geben. Jahr: „Es gibt nur 82 Plätze und keinen mehr. Man muss sich rechtzeitig um Karten kümmern. Ansonsten platzt der Raum aus allen Nähten!“ Torsten Jahr und Alex Welsch zeigen sich erfreut, mit Mäkkelä’s Trash Lounge für den Folgetag (16. November) jenen Künstler gewonnen zu haben, der neben den Woog Riots vor zwanzig Jahren die Reihe eröffnete. Es erwies sich als glücklicher Zufall, dass Folkmusiker Matti Mäkkelä gemeinsam mit Nightbird (Anna-Stina Jungerstam) gerade jetzt wieder auf Tournee ist. „Wunderbar … manchmal passt es einfach!“
Vertraute Gesichter
Mit dem Berliner Neo-Folkduo My Sister Grenadine nebst dem Frankfurter Boo Hoo alias Bernhard Karakoulakis begrüßt man bereits am Sonntag, 2. November, weitere vertraute Gesichter. „Das ist ein Geschenk an die Gäste, die die früheren Auftritte vielleicht verpasst haben“, so Torsten.
Für den Dezember paart man den Darmstädter Filmemacher („Schleimkeim“-Doku) und Punkmusiker Jan Heck mit dem Berliner Urgestein Augelectrik (Peter Auge Lorenz). Jahr: „Er kommt aus der Punk-Szene, macht aber jetzt elektronischen Weirdo-Kram. Die beiden sind eine interessante Mischung: Alte Generation trifft an einem Abend auf junge Generation.“
Wiederholungsgäste konnte man ebenso schon bei den Open-Air-Konzerten auf dem Riegerplatz oder dem Bessunger Jugendhof antreffen, zu dem man beste Kontakte besitzt. Beim diesjährigen Outdoor-Konzert am 2. Juli mit der vielseitigen Darmstädter Experimentalmusikerin Denise Frey und dem Multidimensionalkünstler Marc Euvrie kamen knapp 100 Besucher, obwohl es sich um den bis dato heißesten Tag des Jahres handelte.
Internationale Bewerbungen
Für den Oktober-Termin (am Sonntag, 5. Oktober) bewarb sich – aufgrund des positiven Rufs der „Guten Stube“ – das texanische Duo The Division Men. Zunächst waren Alex und Torsten erstaunt über die Anfrage, da Caroline Rippy Portillo fünf Jahre lang Bassistin bei Tito & Tarantula war und das Ehepaar Portillo bereits mit vielen weiteren prominenten Namen zusammengearbeitet hat.
Generell kann sich das Veranstalterpaar nicht über einen Mangel an nationalen wie internationalen Bewerbungen beklagen: „Das läuft nach wie vor sehr gut.“ Der positive Ruf des kleinen, aber feinen Events in der heimeligen Hinterhofbühne verbreitet sich weiterhin. Die Gästeliste reicht von hiesigen Künstlerinnen wie Candy Jane oder Rockformation Diskokugel über Berliner Szenestars bis zu US-Indie-Helden wie Bob & Lisa oder Walter Schreifels.
Jugend-Idole am Küchentisch
Da die Künstler im Gästezimmer des Veranstalterpaares im Martinsviertel übernachten, entwickelten sich über die Jahre bleibende Kontakte. Jahr und Welsch erinnern sich etwa an die kanadische Folkmusikern Charlotte Cornfield, die sie schon früher in Kanada besuchten oder an den inzwischen verstorbenen Frank Sidebottom (alias Chris Sievey), der ein ganzes Wochenende in Darmstadt verbrachte. Manches Gesicht oder manchen Namen erkannte man später überraschend in einer US-Late-Night-Show wieder. „Das freut einen schon. Dann erinnert man sich an Leute, von denen wir dachten, die bekommen wir nie, weil unser Format zu klein ist und wir nicht viel Geld bezahlen können.“ So wie im Falle des Gitarristen der Gorilla Biscuits, Walter Schreifels. „Doch dann ist er, eines meiner Jugend-Idole, plötzlich doch da, sitzt bei uns am Küchentisch, es ist fantastisch, und man verbringt einen schönen Abend mit ihm. So entstehen langjährige Freundschaften. Das passiert eher, wenn man in familiären Kontakt steht. Das macht viel vom Esprit des Formats aus“, freut sich Jahr.
Kultur abseits von Klicks
Das Miteinander ist für die beiden Macher der Veranstaltungsreihe das A und O: „Es geht viel um Begegnungen und Wohlfühlen“, sagt Alex. „Uns ist es egal, wie viele Klicks ein Künstler für sein Video auf einer Plattform hat; wenn uns die Musik gefällt, dann laden wir ihn ein.“ Denn: „Kultur funktioniert auch ohne viel Geld“, das sei der „kulturphilosophische Ansatz hinter allem.“ Das Motto: „Wir arbeiten so professionell wie möglich, ohne die negativen Begleitumstände des Musikgeschäfts“.
Zum Jubeljahr planen die Stuben-Enthusiasten eine Plakatserie in durchgehendem Design: „Wir gehören zu den Letzten, die noch Plakate produzieren.“ Am 24. Januar 2026 soll zudem das ausgefallene Konzert der holländischen Punkmusikerin Willa van Hoult alias Wick Bambix nachgeholt werden. Wir können uns also auf eine spannende Jubiläumssaison und hoffentlich noch zwanzig weitere spannende Stuben-Jahre freuen.
gutestube-darmstadt.blogspot.com
„Gute Stube“ im Oktober
Diesen Monat treten beim schnuckeligen Wohnzimmerkulturformat auf:
The Division Men (El Paso/Texas): düstere, romantische, ätherische Songs zwischen Dreampop und Americana
Support: Rider Salt (Darmstadt): stimmige Singer-/Songwriter-Stücke zwischen Americana, Country und Folk
Hoffart Theater | So, 5.10. | 20.15 Uhr (direkt nach der „Tagesschau“) | 5 bis 10 €









